Bürokratieabbau statt Demokratieabbau

Mit der Regierungsbildung und dem ständigen Blick auf die USA ist die aktuelle Berichterstattung wieder einmal bei einem alten Thema, das schon länger in unserer Newsletter-Schublade liegt: Bürokratieabbau – oder auch beschönigend „Bürokratie­rückbau“ und „Staats­modernisierung“ genannt.

Das aktuell dominierende Framing und entsprechende Verständnis von Bürokratie legt jedoch eher einen Demokratieabbau statt einen Bürokratieabbau nahe. Es fehlt ein progressives Framing, das sich für Bürokratieabbau einsetzt ohne den Staatsabbau zu befördern. In diesem Newsletter besprechen wir die Probleme des aktuellen Framings und zeigen Möglichkeiten auf, wie man Bürokratie bzw. Bürokratieabbau anders verstehen und kommunizieren kann.

Begriffsbedeutung: Von der Organisations­form zum Kostenfaktor

Der Bürokratiebegriff selbst ist eigentlich nicht negativ. Er setzt sich zusammen aus den Wörtern „Büro“ und „kratie“, letzteres aus dem Griechischen für „herrschen“. So definiert das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) Bürokratie als

hierarchisch gegliederte, auf allgemeinen umfassenden Vorschriften und Gesetzen beruhende Organisationsform eines staatlichen Verwaltungs- und Beamtenapparats

Aber bereits ab dem 19. Jahrhundert verwendete man den Bürokratiebegriff abwertend als eine Art engstirnige Regelbefolgung. Diese Deutung setzt sich bis heute fort, indem Bürokratie als Synonym für Ineffizienz, Kosten und unnötigen Papierkram gebraucht wird. Daneben tragen der „kratie“-Wortanteil sowie persönliche Erfahrungen mit Ämtern, Anträgen und Steuererklärungen vermutlich dazu bei, dass Bürokratie mit Vorschriften und Verboten assoziiert wird. Bürokratie wird zum Gegner der Freiheit, weshalb insbesondere die FDP vor Bürokratiemonstern und Bürokratie-Burnout warnt.

Wortgraph mit Bürokratie in der Mitte und zusammenhängenen Begriffen drum herum
Wörter, die 2024 in deutschen Nachrichten besonders häufig im Zusammenhang mit Bürokratie vorkamen. Quelle: Wortschatz Uni Leipzig. Datenbasis: Deutsches Nachrichten-Korpus 2024 mit über 36 Mio. Sätzen.

Niemand will Bürokratie

Aufgrund dieser Bedeutung wundert es nicht, dass meistens von Bürokratieabbau die Rede ist. Bürokratieabbau funktioniert als politisches Argument so gut, weil niemand für Bürokratie ist. Niemand denkt sich „Juhu, jetzt darf ich fünf statt drei Formulare ausfüllen“.

Wenn Bürokratie mit Ineffizienz, Trägheit und hohen Kosten gleichgesetzt wird, folgt daraus logisch, dass Bürokratieabbau mit Effizienz, Schnelligkeit und Kostenersparnis verbunden ist. Bürokratieabbau ist deshalb als Lösung schnell zu Hand, wenn der Staat Kosten einsparen muss. Besonders die SPD macht sich dafür stark. Das Problem: Die SPD versteht etwas anderes darunter als ihr Koalitionspartner CDU/CSU.

Konservatives Framing: Entlastung durch Bürokratie­abbau

CDU/CSU nutzen das Bürokratieargument, um demokratischen Institutionen Befugnisse zu entziehen und die Handlungsmacht nicht-demokratischer Unternehmen zu erhöhen. Ihre Definition des Bürokratieabbaus gleicht deshalb einem Demokratieabbau. Die SPD sieht im Bürokratieabbau hingegen eine Entlastung für Bürger:innen. Dadurch übernimmt sie das Framing, dass Bürokratie etwas Belastendes und Unnötiges ist und begünstigt damit demokratie­abbau­ende Maßnahmen der CDU/CSU.

Uns erinnert das an die Steuerdebatte. Seit Jahrzehnten übernehmen Progressive das konservative Framing von Steuern als Belastung oder sogar Raub und formulieren daraus Forderungen wie Steuerentlastungen für die Mittelschicht und Geringverdienende. Stattdessen könnten sie Steuern auch als wohlstandsbringenden Gemeinschaftsbeitrag framen und damit für höhere Vermögen- und Erbschaftsteuern werben.

Was können Progressive also tun, um nicht wieder ein Weltbild zu befördern, das entgegengesetzt zu ihrer Politik ist?

Bürokratieabbau als Demokratie­abbau reframen

Zunächst einmal sollten Progressive den Demokratieabbau als solchen benennen und seine Konsequenzen aufzeigen. Demokratieabbau und Privatisierung schränken das Mitspracherecht und die Freiheit der Bürger:innen ein, machen sie abhängig von Monopolen und Preiswillkür, die dann wieder durch teure Sozialprogramme abgefedert werden müssen. Progressive Akteur:innen werden dadurch auf die Rolle der Verteidiger des Sozialstaats reduziert. Ein Teufelskreis, aus dem Progressive keine Gestaltungsmacht entwickeln können.

Auch auf Umsetzungsebene gießen Demokratiekürzungen Öl ins Feuer. In der überlasteten Verwaltung macht sich die Arbeit noch weniger, wenn mehr Personal fehlt. Schließungen ganzer Abteilungen löschen jahrzehntelangen Kompetenzaufbau aus. In den USA und Argentinien konnte man das zuletzt beobachten. Alle, die mal in einer Organisation gearbeitet haben, wissen wie lange es dauert und wie viel Arbeit es ist, eine funktionale Organisation aufzubauen und funktional zu halten. Diese Errungenschaft zu zerstören ist das Gegenteil von Effizienz, Schnelligkeit und Kostenersparnis.

Bürokratiebegriff vermeiden und stattdessen konkret werden

Wie oben beschrieben ist Bürokratie ein vieldeutiger Begriff. Dadurch lässt er sich leicht als politisches Argument für unterschiedliche Forderungen instrumentalisieren. Für progressive Politik wirkt sich die aktuelle Begriffsbedeutung eher negativ aus. Fällt er trotzdem, wiederholt man ihn am besten nicht, sondern kommt gleich zur Sache: Was soll konkret verändert werden und warum ist das gut oder schlecht?

Dabei ist es zentral, ein eigenes Bürokratieverständnis zu verinnerlichen und in die Debatte einzubringen. Damit läuft man weniger Gefahr, das Belastungsnarrativ zu übernehmen und den Demokratieabbau zu begünstigen. Hier sind vier Impulse, Bürokratie anders zu verstehen und zu kommunizieren:

Progressive Perspektiven auf Bürokratie

1. Bürokratie als Erfahrungsschatz

Regeln wurden aufgestellt, um aus vergangenen Fehlern zu lernen und sie nicht zu wiederholen. Die Regeln bündeln Wissen, von dem die Gesellschaft profitiert. Ein intelligenter Staat passt seine Regeln an den neuesten Kenntnisstand an.

2. Bürokratie als Schutzmaßnahme

Datenschutz, Grenzwerte für gesunde Luft, barrierefreie Baustandards – das alles wird häufig unter „belastender Bürokratie“ zusammengefasst und sogar gestrichen, obwohl sie die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen erhöhen.

Warum nicht Schutz selbst, sondern Freiheit das eigentliche Ziel politischer Schutzmaßnahmen ist, haben wir in dieser Ausgabe näher beschrieben.

3. Bürokratie als Qualitätsstandards

Alle wollen Produkte „made in Germany“ und loben Deutschlands Gesundheitssystem, das im internationalen Vergleich noch halbwegs funktioniert. Aber dass diese auf bürokratisch festgeschriebene Qualitätsstandards beruhen, bleibt meist unerwähnt.

4. Bürokratie als gleiche Regeln für alle

Die Regierung fordert ständig Bürokratieabbau für Unternehmen. Wie wäre es mal mit Bürokratieabbau für Arbeitslose, Eltern, Lehrer:innen, Krankenhauspersonal, pflegende Angehörige und Geflüchtete? Für sie werden immer mehr Hürden aufgebaut, weil sie keine Lobby haben, die sich für ihre Rechte einsetzt. Unterstützungsmaßnahmen können aufgrund des bürokratischen Aufwands nicht abgerufen werden. Es ist ungerecht, dass sich die einen an Regeln halten müssen und andere sie ignorieren dürfen. In einer Demokratie zu leben bedeutet, nach gemeinsamen Regeln zu leben.

5. Bürokratieabbau als Hierarchieabbau

Ein Demokratieabbau von oben ist das Letzte, das Mitarbeitende in Behörden und Betrieben gerade brauchen. Ineffizienz ist eine Folge fehlender Mitbestimmung. Meist können Mitarbeitende bei Entscheidungen nicht mitreden, müssen sie aber umsetzen und dadurch den schwierigen Teil der Arbeit übernehmen. Selten gibt es einen (funktionierenden) Feedback-Kanal zurück an die unternehmerischen oder politischen Entscheider:innen. Probleme bleiben dadurch ungelöst. Eine weitere Entdemokratisierung durch Privatisierung würde das Mitspracherecht der Mitarbeitenden und damit die Effizienz der Betriebe weiter verschlechtern.

Tipps fürs Vokabular

  • Wenn du Aspekte der Bürokratie erhalten möchtest: von Regeln, Rollen und Verantwortlichkeiten sprechen
    → Mach klar, dass hinter der sogenannten „Bürokratie“ sinnvolle Regeln und verantwortungsbewusste Menschen stehen
  • Wenn du Aspekte der Bürokratie abschaffen möchtest: von demokratisieren und vereinfachen sprechen
    → Betone Verbesserungen und vermeide den Belastungsframe

Zusammenfassung: Demokratie­abbau benennen, Bürokratie reframen

Die Balance zwischen zu viel und zu wenig Regelwerk zu finden ist eine zentrale politische Aufgabe. Aber das aktuelle Framing von Bürokratie treibt vielmehr einen Demokratieabbau als einen Bürokratieabbau voran, der die Freiheit der Bürger:innen mehr einschränkt als erhöht.

Progressive Akteur:innen sollten die demokratieabbauenden Ziele konservativer Akteur:innen aufzeigen. Sie sollten zudem sprachlich explizit machen, was sie selbst verändern wollen und wie das Bürger:innen zugutekommt ohne ihre Rechte zu beschneiden (z.B. Datenschutz) oder Lebensbedingungen zu verschlechtern (z.B. Grenzwerte für Schadstoffe). Erst dann erhalten Bürger:innen eine demokratische Alternative zum Staatsabbau-Kanon.

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