Was Progressive (nicht) von rechtem Online-Content lernen können
Gastbeitrag von Jakob Berding
Rechter und rechtsextremer Content erzielt seit einigen Jahren enorme Reichweiten auf großen Videoplattformen wie Youtube und TikTok. Dieser Erfolg wirkt sich immer mehr auch auf Wahlergebnisse und politische Einstellungen in Deutschland aus. Doch wie lässt sich dieser Erfolg erklären und was können Progressive dem entgegensetzen?
Zunächst einmal fällt auf, dass viele der erfolgreichen rechten Kanäle auf eine vermeintlich unpolitische Vergangenheit zurückblicken. Auf dem YouTube-Kanal Aktien mit Kopf konnte man sich beispielsweise vor wenigen Jahren noch Aktienempfehlungen und Anlageberatung ansehen. Heute filmt Kanalbetreiber Kolja Barghoorn Onlineartikel von seinem PC ab und ruft mit lauter Stimme zur Wahl der AfD auf. Der ehemalige Fitnessinfluencer Karl Ess spielt mittlerweile in zahlreichen seiner Videos Reden von AfD-Politikern ab. Ähnlich sieht es auf den Kanälen Kettner-Edelmetalle und Vermietertagebuch aus. Statt um Fitnesstipps und Anlageberatung geht es plötzlich um rechte Lieblingsthemen: Migration, Bürgergeld, Deep State, das ganze Programm.
Alt-Right-Pipeline, Alt-Left-Pipeline?
Entsprechende Kanäle erreichen mit ihrem Content täglich hunderttausende Follower:innen. Der Erkenntnisgewinn hält sich in Videos mit Titeln wie „Wahnsinn es wird immer IRRER in Deutschland“ oder „Harald Lesch: Enteignung von 90 Prozent!!!“ dabei in Grenzen. Für die politische Mobilisierung sind solche Kanäle jedoch sehr effektiv: Als ursprünglich nicht genuin politische Kanäle erreichen sie anders als klassische politische Medien auch Menschen, die nicht ohnehin schon an eine bestimmte politische Programmatik gebunden sind.
Das Ergebnis ist die sogenannte Alt-Right-Pipeline: Die Radikalisierung und Mobilisierung von Internetnutzer:innen, die bei anfangs noch harmlosem Content durch Algorithmen immer tiefer in den rechtsextremen Mikrokosmos eingesogen werden. Dabei sind es genau die vermeintlich unpolitischen Kanäle, die besonders effektiv darin sind, Nutzer:innen aus dem vorpolitischen in den politischen Raum hineinzutragen.
In einer Studie zum Einfluss von Onlinemedien auf die US-Wahl 2024 stellte die NGO Media Matters fest, dass 72% der untersuchten Kanäle, die sich ihrer Selbstbeschreibung nach um Themen wie Sport, Popkultur oder Comedy drehten, tatsächlich rechten Content verbreiteten. Die Reichweite dieser Kanäle überstieg dabei die ähnlicher progressiver Medien um das Fünffache.
Für Progressive stellt sich die Frage, was sie dieser Social-Media-Strategie von rechts entgegensetzen können. So fragte vor kurzem Rose Tremlett unter dem Titel „Bizeps gegen Rechts“ in der Zeit, ob der Alt-Right-Pipeline auf TikTok und Co. nicht einfach eine Alt-Left-Pipeline entgegengesetzt werden könnte. Sie musste dabei jedoch feststellen, dass bisherige Versuche nur von mäßigem Erfolg gekennzeichnet sind.
Das ist nicht überraschend. Denn das einfache Kopieren rechter Formate von links kann nicht funktionieren. Um zu verstehen, weshalb solche Kopien weder funktionieren noch sinnvoll sind, lohnt es sich das Thema aus Sicht der kognitiven Linguistik zu beleuchten.
Wo politische Kommunikation beginnt: Ein Blick in die kognitive Linguistik
Zunächst einmal macht es in einem kognitionswissenschaftlichen Kontext keinen Sinn, zwischen einem vor- oder unpolitischen und einem politischen Raum zu trennen. Denn unser politisches Denken wird von denselben mentalen Konzepten geprägt, die auch unser alltägliches Denken prägen. Wir verleihen unserer Lebensrealität permanent durch das, was in der kognitiven Linguistik als konzeptuelle Metaphern bezeichnet wird, Sinn. Sie erlauben es uns erst, unsere Umwelt erfass- und kommunizierbar zu machen. Konzepte, die unseren Alltag strukturieren, spielen auch in unserem Denken über Politik eine wichtige Rolle. Besonders wenn es um abstrakte Themen geht, kann das Gehirn gar nicht anders, als auf bestehende neuronale Schaltkreise zurückzugreifen.
Die Besonderheit der kognitiven Linguistik liegt nun darin, dass wir mit ihr anhand der Sprache nachverfolgen können, auf welche Konzepte wir zurückgreifen, wenn wir über ein bestimmtes Thema sprechen. Wird jemand als „warmherzig“ beschrieben, so verstehen wir intuitiv, was damit gemeint ist, da wir als Kinder eine Verbindung zwischen körperlicher Wärme und Zuneigung hergestellt haben. Wenn in der Politik „die kaltherzige Sozialpolitik von Friedrich Merz“ kritisiert wird, verstehen wir genauso was damit gemeint ist, auch wenn sich die Herztemperaturen von Politiker:innen in Wirklichkeit nicht unterscheiden dürften.
Trotz dieser allgemeinen Verständlichkeit unterscheidet sich die Relevanz und die Bewertung, die wir beispielsweise einer so beschriebenen Sozialpolitik zuweisen. Das liegt daran, dass Menschen verschiedene Konzepte priorisieren, wenn es darum geht, politische Vorhaben als gut oder schlecht zu bewerten. Konzepte, die in unserem Verständnis und unserer Bewertung anderer Lebensbereiche eine wichtige Rolle einnehmen, nehmen auch in unserer Bewertung von Politik eine wichtige Rolle ein. Für Konservative und Rechte sind es Konzepte wie Stärke, Ordnung und Autorität, die das politische Denken prägen. Für Progressive und Linke sind es Konzepte wie Fürsorge, Empathie und Fairness.
In einer Zeit, in der Deutsche jeden Monat durchschnittlich etwa 35 Stunden auf TikTok und fünfzehn Stunden auf Youtube verbringen, speisen sich zahlreiche Konzepte eben auch aus dem auf diesen Plattformen konsumierten Content. Und hier stellt sich die entscheidende Frage: Welche Rolle spielen die auf einschlägigen Social-Media-Kanälen dominanten Konzepte für das Denken über Politik?
Warum rechte Narrative funktionieren: Zwei Beispiele
1. Disziplin & Fitness
Mit Blick auf die in der Zeit genannten Fitness- und Muskelinfluencer zeigt sich, dass ein bestimmtes politisches Weltbild klar im Vorteil ist. Wer täglich hört, wie wichtig Selbstdisziplin und Entbehrungen sind, um stark zu werden, bei dem verankert sich nicht nur Stärke als moralisches Ziel, sondern dem erscheint es auch logisch, dass finanzielle Schwäche eher auf die mangelnde Selbstdisziplin des Einzelnen als auf wirtschaftliche Zusammenhänge zurückzuführen ist. Und dem erscheint es auch plausibel, dass Haushaltsdisziplin wichtige Grundlage für eine starke Wirtschaft ist.
Ähnlich wie Aussagen über die Herztemperatur bestimmter Politiker:innen keine Aussagekraft über die physikalische Realität haben, haben Konzepte wie Disziplin und Stärke keine Aussagekraft über tatsächliche ökonomische Zusammenhänge. Aufgrund der Funktionsweise unseres Gehirns wird es aber wahrscheinlicher, dass wir auf eben jene Konzepte zurückgreifen, wenn wir abstrakte Bereiche wie Wirtschaft und Politik zu erfassen versuchen.
2. Unabhängigkeit und Finanzen
Ähnlich verhält es sich mit den zahlreichen Crypto- und Finfluencern, die auffallend häufig auch rechten Content weit über ihren eigentlichen Themenbereich hinaus produzieren. Entsprechende Kanäle erheben naturgemäß das Verfolgen des Eigeninteresses zur moralischen Prämisse und versprechen Reichtum und finanzielle Unabhängigkeit. Creator wie Hoss & Hopf zeichnen dabei oft das Bild einer feindseligen Welt, von der sich der Einzelne nur durch disziplinierte Arbeit und das Investieren in diese oder jene Aktie unabhängig machen kann. Hier knüpfen zentrale Konzepte vor allem an ein konservatives Weltbild an. In diesem ist das Streben nach Unabhängigkeit nicht nur im Sinne des Eigeninteresses wichtig, sondern auch zur Aufrechterhaltung einer als moralisch wahrgenommenen Gesellschaftsordnung.
Durch die Forschung George Lakoffs wissen wir, dass das abstrakte Konzept Gesellschaft meist anhand unseres Verständnisses von Familie und den damit verbundenen Vorstellungen von Erziehung, Autorität und Verantwortung verarbeitet wird. Im Rahmen dieser Konzeptualisierung wird finanzieller Erfolg insbesondere von Konservativen als ein System aus Belohnung und Bestrafung verstanden. Darin wird finanzieller Erfolg als Belohnung für moralisches Verhalten (Disziplin, Betriebsamkeit, Stärke) und finanzieller Misserfolg als Bestrafung für einen moralischen Mangel betrachtet. Durch die permanente Betonung der Ideale finanzielle Unabhängigkeit, Reichtum und Eigeninteresse bilden die zahlreichen Finfluencer-Kanäle eine direkte moralisch-kognitive Pipeline in ein konservatives Weltbild, in dem Reichtum als Zeichen moralischen Verhaltens, Disziplin und Stärke gilt.
Kognitive Dissonanz
Es ist Menschen durchaus möglich, je nach Thema in sich widersprechenden Konzepten zu denken. Dieser Wechsel zwischen Wertesystemen erzeugt jedoch kognitive Dissonanz, die unser Gehirn zu vermeiden versucht. Einem durch konservative Konzepte strukturierten Content plötzlich progressive Politik aufzupfropfen, sorgt im Zweifelsfall einfach dafür, dass die progressiven Konzepte schlicht nicht verarbeitet oder abgelehnt werden, da sie im Widerspruch zu den gerade neuronal aktivierten Konzepten stehen.
Etwas anschaulicher ausgedrückt: Es erzeugt kognitive Dissonanz in einem Moment von der Notwendigkeit von Selbstdisziplin und Stärke zu hören und im nächsten Empathie für „sozial Schwache“ empfinden zu sollen. Es erzeugt kognitive Dissonanz in einem Moment von der Notwendigkeit finanzieller Unabhängigkeit zu hören und im nächsten von den Vorzügen einer Solidargemeinschaft.
Wie Social-Media-Kanäle erfolgreich progressive Narrative verbreiten können
1. Konzepte erkennen
Um abzuwägen, ob sich ein bestimmter Social-Media-Content dazu eignet, für progressive Politik zu werben, lohnt es sich zu analysieren, welche zentralen Konzepte diesen Content strukturieren. Dafür können beispielsweise in bestimmtem Content immer wiederkehrende Wörter notiert und anschließend überlegt werden, zu welchen gemeinsamen Konzepten sich diese Wörter zusammenschließen lassen. An welches Wertesystem schließen diese Konzepte besser an? Ein erster Überblick über das konservative und progressive Wertesystem findet sich im Handbuch.
2. Anknüpfungspunkte zu politischen Wertesystemen identifizieren
Welcher Content und welche Konzepte eignen sich dafür, an das progressive Wertesystem anzuknüpfen? Wichtig ist es, eine Kongruenz zwischen Konzepten herzustellen und somit progressive Frames direkt an aktivierte neuronale Verbindungen anschließen zu lassen.
3. Reframen
Soll bestimmter Content in die politische Kommunikation integriert und mit progressiven Forderungen verbunden werden, lässt sich dieser im Rahmen progressiver Werte reframen. Kooperation, (Selbst-)Fürsorge und Entwicklung sind in Sport und Fitness beispielsweise ebenso relevant wie Selbstdisziplin. Selbst die stark individualistische Fitnesskultur lebt von gegenseitiger Unterstützung und Motivation, die auf Empathie und Solidarität basieren. Frames lassen sich von Disziplin zu Entwicklung, von Leistung zu Verbindung verschieben. Ein funktionierender und gesunder Körper ermöglicht Teilhabe, Mitgefühl und Energie für Engagement und muss nicht als Teil eines moralischen Wettkampfs gegen andere oder sich selbst geframet werden.
Finfluencer sprechen berechtigte Zukunftsängste und das Bedürfnis nach Unabhängigkeit an. Die Angstbewältigung, beziehungsweise die Erfüllung dieses Bedürfnisses erfolgt für Konservative durch das individualistische Verfolgen von Eigeninteresse und durch Selbstdisziplin. Die Teilnahme am Finanzmarkt verlagert jedoch bestenfalls Abhängigkeiten. Unabhängigkeit muss aus progressiver Perspektive nicht als Unabhängigkeit von der Gemeinschaft, sondern durch sie geframet werden.
Während konservative Narrative Unabhängigkeit als erteilte Belohnung für erwiesene Selbstdisziplin deuten, kann progressive Kommunikation diese als Ergebnis von Kooperation, gegenseitiger Absicherung und geteilter Verantwortung framen. Wohlstand ist in dieser Konzeptualisierung das Ergebnis funktionierender Gemeinschaft: Ein solidarisches Sozialsystem, faire Löhne, stabile Renten und ein demokratischer Zugang zu Ressourcen schaffen die Grundlage dafür, dass Menschen tatsächlich frei über ihr Leben verfügen können.
4. Eigene Themen setzen
Themen wie Fitness, Finanzen und viele weitere sind nicht nur stark im konservativen Weltbild, sondern auch in einer konservativen Welt verankert. Social-Media-Hypes sind verlockend und versprechen schnelle Reichweite. Es ist wichtig, aber auch mühselig, bestehenden Frames etwas entgegenzusetzen. Progressive Kommunikation sollte jedoch nicht den Fehler machen, einfach nur bereits gesetzte Themen und erfolgreichen Content zu reframen, sondern vor allem eigene Themen setzen, mit denen sich das progressive Wertesystem aktivieren und stärken lässt.
Über den Gastautor
Jakob Berding hat Medien und Politische Kommunikation an der Freien Universität Berlin studiert. An der Schnittstelle zwischen kognitiver Linguistik und Politikwissenschaft befasst er sich unter anderem mit dem Zusammenhang konzeptueller Metaphern und politischer Ideologie. Er veröffentlicht regelmäßig Beiträge zu Themen rund um politische Kommunikation.
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